Göhrelöchner-Sage

In diesem Jahr war der Winter schon früh eingekehrt. Vor einigen Tagen hatte es zum ersten Mal geschneit, und einige Schneefetzen bedeckten noch Felder und Wege. Auf den kahlen Bäumen hockten aufgeplusterte Amseln, und ab und zu schwang sich eine schwarze Krähe krächzend durch die Luft. Graue Schneewolken hingen schwer am Himmel und kündeten eine frühe Nacht an.
Der elf jährige Johannes hatte am Nachmittag seinen Freund Max in Immenstaad besucht. Nun wollte er wieder nach Kluftern zurückfahren. Als er aus der Tür trat, bemerkte er plötzlich, dass es viel zu spät war.
Eigentlich hätte er schon zu Hause sein müssen – “vor Einbruch der Dunkelheit”, hatte Mutter gesagt – nun war es schon dämmrig. Aber er hatte sich nicht von seinem Freund Max trennen können. Als er zum Fahrrad lief, spürte er die Eiseskälte im Gesicht. Er zog die warme Mütze über die Ohren, schlug den Anorakkragen hoch und schlüpfte in die Handschuhe. “Tschüß, bis morgen”, rief er Max zu und dachte bei sich: “Jetzt muss ich wohl oder übel die Abkürzung an der Ziegelei vorbei nehmen.”
Eine Weile fuhr er auf der Immenstaader Straße entlang in Richtung Kluftern. Es hatte begonnen, leise und dünn zu schneien. Die Flocken wirbelten ihm ins Gesicht und trafen hin und wieder seine Augen. Die Sicht wurde schlechter. Johannes trat kräftig in die Pedale und erreichte bald die Abzweigung an der Ziegelei. “Gott sei Dank”, dachte er, “nun ist es nicht mehr weit.”
Zwar wurde das Fahren beschwerlicher und die Dunkelheit nahm zu, aber Johannes kannte den Weg genau. Bald war er am Spielplatz und fuhr dann am Wald entlang in Richtung Kluftern. Hier rollte sein Rad fast wie von selbst, denn es ging bergab.
Johannes lehnte sich tief über den Lenker. Da, was war das? Äste knackten etwas Dunkles huschte über den Weg. Er bremste. Das Rad schleuderte hin und her, und er stürzte seitwärts in den verschneiten Graben. Starr vor Schreck lag er am Boden – aber es blieb alles still. Kein Geräusch mehr, und auch der Schatten war verschwunden. Vorsichtig krabbelte Johannes aus dem Graben und zerrte sein Fahrrad wieder auf den Weg. Rasch schwang er sich auf den Sattel. Er hatte nur einen Gedanken: “Weg von hier!”
Das verbogene Schutzblech klapperte laut. Aber das kümmerte den Buben nicht. Es war ihm in dieser Dunkelheit unheimlich zumute, und er wollte so schnell wie möglich nach Hause.
Kurz darauf stand er durchgefroren vor der Haustüre. “Kind, wir haben uns schon Sorgen gemacht”, sagte der Großvater, als er öffnete. “Bei Dunkelheit solltest du nicht mehr unterwegs sein.” Noch ganz außer Atem erzählte Johannes dem Großvater von seinem Missgeschick.
Beim Abendessen sagte der Großvater schmunzelnd: “Früher hätten die Leute gesagt, der Feldvermesser habe dich in den Graben gestoßen..” “Der Feldvermesser?” , fragte Johannes erstaunt. “Ja, kennst du die Geschichte nicht, die sich die Alten im Dorf erzählen?”, meinte da der Großvater, und er begann zu berichten:
Vor langer Zeit geschahen in dieser Gegend, vor allem aber in der Nähe des Lipbachs, in der Nacht immer wieder seltsame Dinge. Man erzählt sich, dass Leute, die in der Dunkelheit zwischen Ittendorf und Kluftern unterwegs waren – vielleicht kehrten sie von einem Feste heim -, unvermutet eine schauerliche Stimme “Hopp! Hopp!” rufen hörten. Manche wurden von einer unsichtbaren Macht in den Eschengraben gestoßen. Andere berichteten, sie wären die halbe Nacht durch den Wald geirrt, ohne wieder herauszufinden.
Für alle diese Spukgeschichten war nach der Meinung der Leute ein Mann verantwortlich, der zu Anfang des letzten Jahrhunderts in der Umgebung von Kluftern gelebt hatte und ein Feldvermesser gewesen war. Damals gab es nur wenige, die es verstanden, Karten und Pläne anzufertigen und zu lesen. Immer wenn ein Grundstück neu vermessen werden sollte, rief man den Feldvermesser, der die Felder und Waldstücke mit Ketten einer bestimmten Länge ausmaß. Seine Gehilfen spornte er zur Arbeit an mit dem Ruf: “Hopp! Hopp!”
Dieser Feldvermesser muss ein übler und unehrlicher Bursche gewesen sein, denn er begünstigte jene Bauern, die ihm zu seinem Lohn, der sehr gering war, noch Wein, Kirschwasser und Fleisch gaben. Die armen aber, die sich solche Geschenke nicht leisten konnten, benachteiligte er.
Doch nach seinem Tod wurde der habgierige Feldvermesser für seine Unehrlichkeit bestraft. Er konnte im Grab keine Ruhe finden. Jede Nacht zur Geisterstunde zwischen zwölf und eins war er an der Kreuzmark beim Eschenbrückle oder an anderen Stellen des Waldes anzutreffen, wo er mit den ahnungslosen Wanderern seine bösen Scherze trieb.
“Ja, dann war’s vielleicht der Feldvermesser, der mich in den: Graben gestoßen hat?”, fragte Johannes. “Nein, mein Junge!”, lachte der Großvater, “meine Geschichte ist ja noch nicht zu Ende. Hör nur zu, wie’s weitergeht!”
Eines Nachts war ein Mühlenkutscher mit seinem Fuhrwerk unterwegs von Immenstaad nach Kluftern. Er war ein unerschrockener Mann und kannte die Geschichten, die man sich im Dorf erzählte. “Ich werd’s ihm zeigen”, dachte er, als er in der Dunkelheit durch den Wald fuhr.
An einer Wegbiegung musste er die Pferde anhalten, denn ein umgestürzter Baumstamm versperrte ihm den Weg. Der Kutscher sprang vom Bock und machte sich daran, das Hindernis mit ganzer Kraft zu beseitigen. Da hörte er plötzlich eine schauerliche Stimme rufen: “Wo soll ich den Grenzpfahl hinstecken?” Der Kutscher erstarrte zunächst vor Schreck, jetzt hatte er nicht mit dem Spuk gerechnet. Beherzt rief er dann aber in die Dunkelheit: “Wo du ihn hergenommen hast!” Er hörte das Echo seiner Stimme, ein unheimliches Rauschen, und dann war es still. Rasch sprang der Kutscher auf sein Fuhrwerk und lenkte es nach Kluftern. Das war das letzte Mal, dass irgendjemand einen Spuk erlebte! Der Mühlenkutscher hatte den Geist des Feldvermessers erlöst; er hatte ihm auf seine Frage eine Antwort gegeben.
“Gott sei Dank!”, rief Johannes, der den Worten des Großvaters gespannt zugehört hatte. “Wie hat der Feldvermesser wohl ausgesehen?”, wollte Johannes noch wissen. “Einmal im Jahr kannst du ihn sehen”, lachte der Großvater, “dann läuft er mit seiner schwarzen Kette durchs Dorf. Man nennt ihn den Göhrelöchner, vielleicht deshalb, weil er in der Feldflur Göhren gelebt hat. Zur Fasnetszeit tragen viele Narren hier in Kluftern die Maske und das Häs (Gewand) des Göhrelöchners, und nun kennst du auch seine Geschichte”, beendete der Großvater seine Erzählung.